Stadtrundgang mit Markus Golser in Stuttgart am 7.Oktober 2022

Stuttgarter Architektur des Wiederaufbaus

Vorträge und Führungen mit Markus Golser sind fester Bestandteil des Veranstaltungsprogramms der Freunde der Galerie Stihl. Sein inhaltliches Portfolio umfasst Themen aus dem gesamten Bereich der Kunst-, Kultur- und Architekturgeschichte.

Bei bestem Spätsommerwetter trafen sich jeweils 2 Gruppen – vormittags und nachmittags – zu einem Rundgang in der Stuttgarter City, die sich nach der schweren Zerstörung im Weltkrieg grundlegend verändert hatte.

Erst 1949 begann der Wiederaufbau. „Ohne Planungshemmungen“ sollte eine konsequent moderne, verkehrsfreundliche Stadt entstehen. Dabei reichte die architektonische Palette von der konservativen Wiederbelebung der Stuttgarter Schule bis zu einer von aktuellen US-amerikanischen Entwicklungen beeinflussten Moderne. Zwischen Rasterfassaden, Flugdächern, Aluminiumrahmen und Glasbausteinen stellte uns Markus Golser bei einem ausgiebigen Architekturrundgang die gesamte Bandbreite der Nachkriegsarchitektur vor.

Baustil zwischen Traditon und Moderne: Das Justizgebäude (1950 – 56) in der Urbanstraße 18 – 20 bzw. das Verwaltungsgebäude „König von England“ von Karl Gonser (1954 – 60) in der Dorotheenstraße 2 mit den typischen Schaufenster- und Türinstallationen oder den „Reklame“-Schriftzügen der 50er.

Die neue Umbauung des Marktplatzes repräsentiert die „Nierentischmoderne“, die jede Monumentalität vermeiden will, nach beschwingter Leichtigkeit, harmloser Niedlichkeit, südlicher Heiterkeit strebt. Typisch sind Fassaden mit malerischer Gestaltung (Farbanstrisch, Keramik- oder Mosaikverkleidung – siehe Wandobjekt in der Stiftstraße 1). Im Kontrast dazu steht das funktionalistisch und klar gegliederte Rathaus, das im Stil der Modernen von Hans Paul Schmohl und Paul Stohrer (1953 – 56) erbaut wurde.

Interessant ist das Gebäudeensemble der Holzberufsgenossenschaft in der Charlottenstraße 29-31 (Neoexpressionistischer Stil – Rolf Gutbrod und Paul Stohrer 1949 -50). Wegen einer riesigen Reklame für einen Bohnerwachshersteller, die früher am Eingang prangte, kennen viele das als „Loba-Haus“.

Die Vertreter der Moderne im „International Style“ sind der Speiserbau in der Königstraße 34b (Rolf Gutbier 1950 – 51) und das US-Generalkonsulat in der Urbanstr. 7 (Skidmore, Owings & Merrill, Otto Apel 1954 – 55)

Es war eine spannende Führung, die bewiesen hat, dass man Stuttgart gar nicht so gut kennt, wie man glaubt. Dieser Bericht zeigt nur einen kleinen Auszug unserer Stationen. Darüber hinaus hätte es noch weitere Sehenswürdigkeiten zuhauf gegeben, aber dann wäre daraus ein Tagesausflug geworden. Es war sinnvoll die Führung auf wenige zu Fuß erreichbare Objekte zu beschränken. Zum Beispiel nicht auf der Besichtigungstour waren die Liederhalle mit ihrer Mosaik -Fassade von Rolf Gutbrod und Adolf Abel (1955-1960) als Beispiel für den Neoexpressionismus mit organischem Baustil oder eben Objekte in den Außenbezirken wie Hans Scharouns Hochhäuser Romeo (1957) und Julia (1959) in Zuffenhausen-Rot, die als Vertreter der Nachkriegsmoderne überhaupt die ersten in Stuttgart errichten Hochhäuser nach 1945 waren. (Quelle: Handout Markus Golser, Fotos: Tom Becker)